Unter dem Motto „Nothing about us without us“ hat der europäische Dachverband der Industriegewerkschaften industriAll Europen Trade Unions eine Aktionswoche für einen sozial fairen Wandel aufgerufen. Die Glück auf! traf industriAll-Generalsekretär Luc Triangle am Rande der Automobilkonferenz in Wien.
Trotz wirtschaftlicher Erholung steht die europäische Industrie vor großen Schwierigkeiten: Lieferengpässe bei Halbleitern und anderen Rohstoffen bremsen die Produktion, der CO2-Ausstoss muss dramatisch reduziert werden, einhergehend mit stak steigenden Energiepreisen. Wie kommen wir da wieder heraus?
Zuerst einmal halte ich es für richtig, dass die Europäische Kommission und die Europäische Union entschieden haben, den Wiederaufbaufonds NextGenerationEU ins Leben zu rufen und tatsächlich in die Wirtschaft zu investieren, um die von Covid verursachte Krise zu bewältigen. Wir sehen eine komplett andere europäische Politik als in der Finanzkrise, wo alles nur auf Austerität abgezielt hat. Wir sehen die Politik, die wir sehen wollen und die stellt Investitionen in den Mittelpunkt. Diese Investitionen müssen sich auf die Zukunft der Industrie und auf die Industrie der Zukunft konzentrieren. Und welche Industrie wir in der Zukunft brauchen, das ist klar: eine grüne Industrie! Deshalb müssen sich die Neustart- und Erholungsprogramme darauf konzentrieren, den grünen und den digitalen Wandel in der Industrie umzusetzen. Die Programme müssen mit den Green Deal-Zielen und dem Fit for 55-Paket Hand in Hand gehen und kohärent sein. In diesem Sinne unterstützen wir diese Politik.
Aber für Millionen von ArbeiterInnen in unseren Industriesektoren – in der Rohstoffindustrie, im Kohleabbau, in der Öl- und Gasindustrie, aber auch im Automobilsektor, im Stahlsektor, im chemischen Sektor – wird der grüne Wandel und der digitale Wandel eine riesige Herausforderung sein. Wir unterstützen den Green Deal und Fit for 55, aber unter der Voraussetzung, dass die Europäische Union viel mehr Ambition zeigt und viel mehr Ressourcen zur Verfügung stellt, um sicher zu stellen, dass kein Mensch und keine Region zurückgelassen wird. Das hat auch die Kommission immer gesagt: Wir müssen den grünen Wandel vollziehen, aber es sollte auch ein sozialer Wandel sein. Nun, heute sehen wir zwar das grüne Ziel, aber wir vermissen die sozialen Unterstützungsmechanismen, die garantieren, dass jeder mitgenommen wird. Und das bedeutet, dass manche Regionen in Europa ihre hauptsächlichen Arbeitgeber verlieren könnten – im Bergbau, in der Gas-, in der Stahlindustrie oder der Automobilindustrie. Und die Frage ist: Wenn wir aus dem einen aussteigen, wo bleibt die Diskussion darüber, in etwas neues einzusteigen? Diese Diskussion müssen wir einfordern. Was tun wir, um diese Regionen zu reindustrialisieren und neue, qualitative Beschäftigung zu schaffen für die betroffenen ArbeiterInnen.
Das wird die hauptsächliche Herausforderung für Europa in den nächsten zehn, zwanzig Jahren - Dort wo Arbeitsplätze verschwinden, eine Zukunft zu gestalten. Wenn wir das nicht tun, werden wir in Europa eine Entwicklung haben, bei der die einen den Wandel bewältigen und neue Jobs schaffen und in anderen Regionen die Jobs nur verschwinden und nichts neues entsteht, und dann wird die Kluft in Europa und in der Europäischen Union größer statt kleiner. Es liegen also riesige Herausforderung vor uns und wir als industriAll Europe und als Industriegewerkschaften in ganz Europa müssen für die Zukunft unserer ArbeiterInnen und die Zukunft der Arbeitsplätze in der Industrie kämpfen - und zwar in den Regionen, wo sie jetzt sind.
Der G20-Gipfel in Rom hat gezeigt, dass z.B. China, Russland oder Indien bei der CO2-Reduktion deutlich weniger ambitioniert sind. Wie groß ist die Gefahr, dass Europa umweltpolitisch vorangeht, aber wirtschaftlich auf dem Weltmarkt untergeht?
Technologische Führerschaft bei Entwicklungen wie zum Beispiel grünem Stahl, in der Dekarbonisierung unserer Industrien und so weiter ist grundsätzlich gut - das ist langfristig, denke ich, absolut der richtige Zugang. Aber es stimmt, das beinhaltet ein kurzfristiges Risiko, dass wir in Europa viel investieren müssen, Unternehmen unter viel Druck kommen und Produkte teurer werden, während andere, wie China oder Russland, auf den europäischen Markt kommen mit immer noch "schmutzigen", aber billigen Produkten, die weder sozial noch ökologisch nachhaltig hergestellt werden. In dieser Hinsicht können wir nur erfolgreich sein, wenn wir unter gleichen Wettbewerbsbedingungen antreten. Das bedeutet, dass wir für den Import von Stahl und anderen Produkte von außerhalb der Europäischen Union einen Mechanismus brauchen, der die Kosten ausgleicht und das ist tatsächlich geplant: Mit dem Carbon Border Adjumstment Mechanism, CBAM, werden Produkte an der Grenze der EU verzollt, um faire Bedingungen wenn schon nicht in sozialer Hinsicht, aber zumindest in Hinsicht auf die CO2-Emmissionen mit europäischen Produkten herzustellen. Alles andere wäre naiv, wir würden billigen Importen mit einer teuren eigenen Produktion gegenüber stehen und dann werden wir das Spiel verlieren. Aber es wird eine Herausforderung. Europa muss viel bestimmter auftreten und mehr Stärke zeigen, um sicher zu stellen, dass unsere Unternehmen nicht benachteiligt sind im Wettbewerb mit Herstellern außerhalb der Europäischen Union.
Vor kurzem hat auch die IG Metall eindringlich gewarnt, dass etwa die europäische Stahlindustrie praktisch zur Gänze in Gefahr ist. Können wir die Klimaziele erreichen, ohne die Arbeitsplätze in der Industrie zu verlieren?
Die IG Metall hatte Ende Oktober einen Aktionstag, der Teil einer europäischen Aktionswoche für fairen Wandel war, die wir von industriAll Europe organisiert haben. Weder die IG Metall noch wir lehnen die Ziele und die Dekarbonisierung ab. Ein Problem ist derzeit aber, dass die Geschwindigkeit sehr schnell ist. Jetzt werden die Ziele erhöht, die Zeitspanne, in der sie erreicht werden sollen wird verkürzt und so kommen wir zu einem Punkt, wo wir feststellen müssen, dass in dieser Zeitspanne nicht für jeden eine Lösung gefunden werden kann - und das ist für uns nicht akzeptabel. Ganz offen: wir unterstützen die Ziele, wie schon erwähnt, aber nicht wenn sie zum zum Schaden der Menschen und zum Schaden der ArbeiterInnen ausfallen. In diesem Sinn kann die Europäische Union schöne Ziele setzen, aber sie müssen auch die Antworten geben zu den sozialen Konsequenzen dieser Ziele und das vermissen wir heute. Wir als Gewerkschaften sind nicht die Haushälterinnen der der EU- Maßnahmen. Die Union kann nicht die Ziele setzen und es dann den Gewerkschaften überantworten, die sozialen Konsequenzen zu verhandeln - wohl wissend, dass es nicht überall Lösungen geben wird. So funktioniert das nicht. Daher fordern wir jetzt viel mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um diesen Wandel umzusetzen und in neue Industrien, in neue Jobs, in Infrastruktur zu investieren und eine neue Zukunft zu schaffen für ArbeiterInnen, die von diesem Wandel betroffen sind im Automobilsektor, aber auch im Stahlsektor, im Bergbau und so weiter.
Wenn wir die Digitalisierung dazurechnen: Wird es in Zukunft Industriejobs im derzeitigen Umfang noch geben?
Ganz klar nein. Wenn wir die Geschichte der Produktion und der Industrie anschauen, dann hat immer technischer Fortschritt stattgefunden –mit der Fließbandarbeit bei Ford im frühen 20. Jahrhundert, mit der Automation seit den 60ern – der zu Produktivitätssteigerung geführt hat und dasselbe wird auch jetzt passieren. Die Frage ist nun: Wie teilen wir die Arbeit auf? Und dann werden wir wieder eine Diskussion über Arbeitszeitverkürzung führen müssen. Wenn die Produktivität pro Beschäftigtem zunimmt, dann können wir uns auch eine Reduktion der Arbeitszeit leisten - bei vollem Lohnausgleich - und den Kuchen der verfügbaren Arbeitsplätze auf mehr ArbeiterInnen aufteilen. Für Gewerkschaften wird das in Zukunft wieder ein ganz wichtiges Thema werden, um Jobs für ArbeiterInnen zu erhalten.