Zwei Jahre ist es her, dass der rechtsextreme und ultralibertäre Javier Milei zum Präsidenten Argentiniens gewählt wurde. Als politischer Außenseiter konnte er damals mit radikalen Ansagen zahlreiche Wähler:innen für sich begeistern. Seine zentralen Wahlversprechen waren die Senkung der horrenden Inflation und der Abbau des massiven Budgetdefizits.
Was Argentinien seither erlebt, ist ein politisches und soziales Experiment mit drastischen Folgen. Zwar ist die Inflation deutlich gesunken, doch gleichzeitig wurden zehntausende Beschäftigte im öffentlichen Dienst entlassen, Pensionen gekürzt und staatliche Subventionen gestrichen. Dieser soziale Kahlschlag hat die Armut massivanwachsen lassen. Eine aggressive Deregulierungswelle setzt Klein- und Mittelbetriebe unter Druck und gefährdet grundlegende Arbeitsrechte. Und ausgerechnet jene Korruption, die Milei stets anprangerte, breitet sich nun auch in seinem eigenen politischen Umfeld aus.
Umso erstaunlicher erscheint es, dass Mileis Bündnis La Libertad Avanza bei den Zwischenwahlen im Oktobereinen Wahlsieg von 41 Prozent erzielen konnte – ein Ergebnis, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. Noch wenige Wochen zuvor war das Bündnis bei der Regionalwahl in der Provinz Buenos Aires deutlich hinter der progressiven Koalition auf dem zweiten Platz gelandet.
Oppositionelle und Aktivist:innen auf der ganzen Welt stellen sich die Frage, wie es der Regierung gelungen ist, einen derartigen Wahlerfolg zu erzielen, obwohl viele Entwicklungen klar gegen sie sprachen. Ein Blick auf die vergangenen zwei Jahre lohnt sich dabei nicht nur für Argentinien, sondern auch international, wo rechtsextreme und gewerkschaftsfeindliche Kräfte zunehmend an Einfluss gewinnen. Basierend auf einem Gespräch mit Roberto Baradel, internationalem Sekretär der argentinischen Gewerkschaft CTA, lassen sich vier zentrale Lehren ziehen.
Lehre 1: Traue nur jenen Zahlen, die du selbst gefälscht hast
Auf den ersten Blick scheint die wirtschaftliche Bilanz überzeugend. Die Inflation wurde von rund 300 Prozent auf etwa 30 Prozent gesenkt, auch das Staatsdefizit wirkt erstmals unter Kontrolle. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass diese Zahlen die Realität nur unzureichend abbilden.
Um das Defizit zu reduzieren, werden weiterhin Steuern und Abgaben eingehoben, gleichzeitig aber Zahlungen an Provinzen, Schulen und Universitäten ausgesetzt. Baradel beschreibt diese Praxis so: „Das ist, als würde man ganz normal verdienen, aber plötzlich keinen Strom, keine Miete und kein Essen mehr bezahlen. Natürlich bleibt dann am Ende Geld übrig.“ Zusätzlich werden externe Kredite nicht mehr als Schuldenverbucht, sondern als „Investitionen“ ausgewiesen.
Zwar sinkt die allgemeine Inflationsrate, doch der Deregulierungskurs treibt die Preise für Mieten und Güter des täglichen Bedarfs massiv in die Höhe. Gleichzeitig sollen Arbeitnehmer:innenrechte eingeschränkt werden, um den Arbeitsmarkt für ausländische Investoren attraktiver zu machen. Da das erhoffte Wirtschaftswachstum bislang ausbleibt, setzt Milei auf eine noch radikalere Marktöffnung und die Senkung der Vermögenssteuer, um Kapital anzuziehen.
Lehre 2: Wahlen werden nicht nur im Inland entschieden
Diese Investoren stehen bereits in den Startlöchern, denn Argentinien verfügt über strategisch bedeutende Rohstoffe. Das Land besitzt das viertgrößte Lithiumvorkommen der Welt, einRohstoff von zentraler Bedeutung für die grüne und digitale Transformation.
Der Internationale Währungsfondsspielt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle. Unter Javier Milei erhielt Argentinien einen der höchsten IWF-Kredite seiner Geschichte – ausgerechnet unter einem Präsidenten, der sich zuvor vehement gegen internationale Verschuldung positioniert hatte. Auffällig ist, dass auch der bislang größte IWF-Kredit an Mileis Vor-Vorgänger Mauricio Macri (2015–2019) vergeben wurde. Beide Präsidenten eint ihr wirtschaftspolitischer Kurs: die Ablehnung protektionistischer Maßnahmen, umfassende Deregulierung und die nahezu bedingungslose Öffnung des Marktes für internationales Kapital, wenn auch Milei diese Linie deutlich radikaler verfolgt.
Ergänzt wurde diese Unterstützung durch ein 12-Milliarden-Dollar-Paket der Weltbank. Die Folgen sind gravierend. Argentinien zählt heute zu den am höchsten verschuldeten Ländern der Welt, mit Schulden, die realistisch kaum mehr zurückzuzahlen sind.
Diese Abhängigkeit von externen Geldgebern wird durch fehlende Devisenreserven weiter verschärft. Die USA nutzten diese Situation gezielt und kündigten kurz vor den Zwischenwahlen im Oktober an, Argentinien mit 20 Milliarden Dollar zu unterstützen, sollte Mileis Bündnis gewinnen. Diese offene Einflussnahme auf den Wahlkampf zählt zu den Faktoren, die Mileis Wahlerfolg mit ermöglichten.
Auch wenn Javier Milei und Donald Trump ideologisch durchaus Schnittmengen haben, beruht diese Unterstützung vor allem auf geopolitischen Interessen. Spätestens seit der Veröffentlichung der US-Sicherheitsstrategie ist klar, dass Washington seinen Einfluss in Lateinamerika ausbauen will, um sich langfristig als globaler Machtfaktor zu positionieren und den Zugang zu strategischen Rohstoffen abzusichern.
In diesem Kontext erklärt sich auch, warum Brasiliens Präsident Lula das EU-Mercosur-Abkommen zuletzt offensivbeworben hat. Er sieht darin eine Möglichkeit, den US-amerikanischen Einfluss in der Region einzudämmen. Gewerkschaftliche Stimmen warnen jedoch, dass bestehende Abhängigkeiten dadurch lediglich neu verteilt würden. Solange Lateinamerika primär als Rohstofflieferant fungiert, bleiben asymmetrische Machtverhältnisse bestehen, häufig auf Kosten von Arbeitsrechten, Umweltstandards und demokratischer Mitbestimmung.
Lehre 3: Proteste werden kriminalisiert, organisierter Widerstand systematisch geschwächt
Diese Entwicklungen bleiben nicht unbeantwortet. Seit Mileis Amtsantritt formiert sich in Argentinien breiter Widerstand. Eine der sichtbarsten oppositionellen Gruppen sind Pensionist:innen, die wöchentlich gegen die Kürzungen demonstrieren. Ihnen begegnet der Staat regelmäßig mit massiver Polizeigewalt.
Um dieses Vorgehen zu legitimieren, versucht die Regierungspartei, die Proteste als von radikalen Fußball-Hooligans gesteuert darzustellen. Ziel ist es, den Widerstand zu delegitimieren und jene zum Schweigen zu bringen, die besonders stark von den Einsparungen betroffen sind.
Auch die Gewerkschaften bilden eine zentrale Gegenmacht. Trotz bereits erfolgter Einschränkungen des Streikrechts kam es seit Mileis Amtsantritt zu zahlreichen Arbeitskämpfen. Eine geplante Arbeitsrechtsreform verschärft den Konflikt zusätzlich. Vorgesehen sind längere tägliche Arbeitszeiten, weitere Einschränkungen des Streikrechtsund geringere Entschädigungen bei Kündigungen. Darüber hinaus sollen den Gewerkschaften erhebliche finanzielle Mittel entzogen werden. Die Regierung versucht damit gezielt, ihre lautesten Kritiker strukturell zu schwächen.
Lehre 4: Wer keine Alternative hat, gewinnt keine Wahl
Trotz breiter Proteste ist es der Opposition bislang nicht gelungen, eine glaubwürdige politische Alternative zu entwickeln. Das zeigte sich auch bei den Zwischenwahlen, als rund 42 Prozent der Wahlberechtigten trotz Wahlpflicht nicht zur Wahl gingen. Diese hohe Nichtwahlbeteiligung ist Ausdruck tiefer politischer Enttäuschung.
Gleichzeitig wählten viele Menschen nicht aus Überzeugung für Milei, sondern aus Angst vor einer neuen Wirtschaftskrise. Die Erfolge bei der Inflationsbekämpfung reichten aus, um Milei – zumindest vorläufig – weiter zu unterstützen. Seit über 20 Jahren schlittert Argentinien immer weiter in die Krise. Der große Wunsch der Bevölkerung ist Stabilität. Darin erklärt sich auch der Sieg Mileis, der als unkonventioneller politischer Kandidat viele für sich überzeugen konnte. Die etablierten politischen Kräfte konnten der Bevölkerung kein überzeugendes Angebot mehrbieten (man erinnere sich, dass 2023 bei der Präsidentschaftswahl vom progressiven Flügel der bisherige Wirtschaftsminister als Spitzenkandidat angetreten ist. In Zeiten von Hyperinflation wohl nicht die beste Wahl). Milei war auch von Beginn an ehrlich: die Sparpolitik wird schmerzhaft sein. Nach Jahren permanenter Krisenerfahrung hoffen viele, dass sich das Leid diesmal zumindest langfristig auszahlen könnte.
Diesen Faktor blendete die Opposition bisher aus und setzte verbissen auf einen reinen Anti-Milei Wahlkampf. Die jüngste Niederlage zeigt jedoch deutlich, dass Ablehnung allein nicht mobilisiert. Ohne eine klare Vision bleibt politische Zustimmung aus. Ohne eine konkrete Vision wird die Bevölkerung auch weiterhin Angriffe auf die Demokratie in Kauf nehmen, solange sich ihre Situation subjektiv zumindest nicht verschlechtert.
Doch auch die Gewerkschaftsbewegung musste bereits Lehren aus den vergangenen zwei Jahren ziehen. Seit Mileis Amtsantritt mobilisierte sie vor allem gegen den Abbau von Arbeits- und Gewerkschaftsrechten. Dabei wurde jedoch ein zentraler Punktunterschätzt: Rund 50 Prozent der Beschäftigten in Argentinien arbeiten im informellen Sektor und profitieren kaum von jenen Rechten, die nun angegriffen werden. Milei gelang es geschickt, einen Keil zwischen formell Beschäftigte und prekär Arbeitende zu treiben, indem er erstere als privilegierte „Elite“ darstellte. Wenn die Gewerkschaften weiterhin erfolgreich für die Beschäftigteneintreten wollen, müssen sie Wege finden, um diese Spaltung zu überwinden und jene Beschäftigten anzusprechen, die bislang kaum organisiert sind.
Argentinien ist keinSonderfall
Die Entwicklungen in Argentiniensind kein isoliertes Phänomen. Sie zeigen exemplarisch, vor welchen Herausforderungen demokratische und gewerkschaftliche Bewegungen weltweit stehen. In Zeiten multipler Krisen braucht es Antworten, die über die Verteidigung des Status quo hinausgehen und glaubwürdige Alternativen aufzeigen.
Viele Menschen können die Ursachen der aktuellen Krisen nicht immer benennen, doch sie spüren, dass das bestehende Wirtschaftsmodell zunehmend an seine Grenzen stößt. Gefragt sind Konzepte für eine nachhaltige Wirtschaft, von der nicht nur wenige profitieren, sondern breite Teile der Gesellschaft.
International braucht es Strategien, um strukturelle Abhängigkeiten zu überwinden. Baradel nennt etwa einen Schuldenschnitt als realistische Option, um Länder wie Argentinien aus der Schuldenfalle zu befreien. Dafür braucht es politischen Willen, nicht wirtschaftliche Unmöglichkeit.
Langfristig sind neue Handelsmodelle erforderlich, die eigenständige industrielle Entwicklung im globalen Süden fördern und eine solidarische Nutzung von Ressourcenermöglichen. Gleichzeitig muss der Multilateralismus gestärkt werden, um dem Vormarsch einseitiger Machtinteressen entgegenzuwirken.
Argentinien zeigt, wohin es führt, wenn soziale Fragen, Demokratie und internationale Machtpolitikgegeneinander ausgespielt werden. Die Antwort darauf kann daher nur eine globale sein.

.avif)

